Auf den Grünflächen vor dem Eingang des Bundessozialgerichts in Kassel steht eine große Aluminiumplastik. Unverkennbar bildet sie den Monumentalbau im Hintergrund nach. Dessen Formen sind im Kunstwerk vereinfacht, vor allem aber sind Tektonik und Stabilität aus ihm gewichen. Dass das Hausobjekt aus Metall ist, kann man sehen, und dass es fest ist, kann man sich denken. Dennoch ist es auch ein „weiches Haus“ - so lautet der bedeutungsvolle Titel, den die Künstlerin Gabriele Obermaier diesem nach einem Filzmodell entstandenen Aluminiumguss gegeben hat.
Die im Zuge der Gebäudesanierung 2008-2009 umgesetzte Kunst am Bau bezieht sich als Antithese auf das neoklassizistische Gerichtsgebäude, das 1936-1938 zur Vorbereitung des Zweiten Weltkriegs errichtet wurde. 1953 zog das Bundessozialgericht ein. Auch das Bundesarbeitsgericht hatte bis 1999 hier seinen Sitz. Bei der Sanierung und Modernisierung wurde dem Innenhof ein Sitzungssaal hinzugefügt. Von größerer Außenwirkung und symbolischer Bedeutung aber ist die Verlegung des Eingangs von der Ostseite auf die Südseite. Denn damit vollzog man einen programmatischen bauideologischen Wechsel. Der ursprüngliche Eingang ist – nach dem Einschüchterungskalkül der alten Gebäudestrategie - von einer ausladenden Freitreppe und einem gebäudehohen und besonders wuchtig gestalteten Pfeilerportikus umgeben. Der neue Eingang dagegen öffnet sich - entgegen der typologischen Logik des Gebäudes – in bescheidenerer Dimension im Ehrenhof unter einer Pfeilerkolonnade, die sich auf Geschosshöhe hält .
Der Herrschafts- und Systemwechsel spielt in der Kunst am Bau ebenso eine Rolle wie die Auseinandersetzung mit der ideologisch vereinnahmten Baugestalt. Deren Trutzigkeit und Strenge geraten im Kunstwerk ins Wanken. Die Pfeiler verlieren ihre Starre und Symbolik. Das Sandsteingewände, der militärische Dekor und die freiplastischen Rossebändiger auf der Ostseite verschwinden in Obermaiers künstlerischer Transformation. „Der Leitgedanke bei der Konzeption ist das menschliche Maß“, so die Erläuterung der Künstlerin. In der künstlerischen Dekonstruktion des Kasseler Kolossalbaus ist dementsprechend nicht nur das Nazi-Ideologische, sondern auch alles Mathematische, Regelhafte, Kanonische und Idealschöne getilgt. Die Plastik „Weiches Haus“ ist eine Travestie mit aufklärerischen Absichten und Memento-Funktionen. Dabei bewahrt sie sich haptische Reize, die Anmut der Weichheit und in den Beulen des Hauses durchaus auch Komik.
Weiterführende Literatur Online:
Martin Seidel (Autor), BMVBS (Hrsg.): Dokumentation von 50 Kunst-am-Bau-Werken, BMVBS-Online-Publikation 05/2013.
Martin Seidel