Das Haus, vor allem in seiner traditionellen Form, verkörpert Sicherheit. Es stellt einen abgeschirmten Lebensraum zur Verfügung, der nicht nur gegenüber feindlicher Natur, sondern auch gegenüber Gefahren und Störungen sozialer Art seine Schutzfunktion ausübt. Dieser Schutz hängt aber von weiteren Voraussetzungen ab. Gabriele Obermaiers „Stellvertreterhaus“ bezieht sich konkret auf diese Abhängigkeit mit Bezug auf die Gefahr von Überschwemmungen, die hierzulande dem Bewusstsein für Umweltgefahren zwischenzeitlich wieder zu starker medialer Präsenz verholfen haben. In Dorfen wurde mit einem Auffangbecken für überschießende Wasserpegel Vorsorge getroffen, so dass auch im Notfall nur dieser kleine See, und mit ihm das „Stellvertreterhaus“ unter Wasser stehen wird. Insofern könnte man Obermaiers Stahlobjekt als Zeichen auffassen, an dem das Funktionieren eines gesellschaftlichen Sicherungsmechanismus abzulesen ist.
Aber es handelt sich hier nicht um ein bloßes Anzeigeinstrument, sondern um eine ästhetische Interpretation, die vielfältige Bezüge in einem Bild verdichtet. Es kommen nicht nur mythische und kulturelle Vorstellungen ins Spiel, sondern es stellt sich auch die Frage nach der Regel, die bestimmt, wer oder was im Notfall geopfert wird. Was in unserer Gesellschaft als unbedingt schützenswert erachtet wird und was nicht, ist ja offenbar durch gewisse Grenzen geregelt, die zwischen wichtigeren und unwichtigeren Gruppen, Regionen, Gütern oder Personen unterscheiden.
So könnte das „Stellvertreterhaus“ in symbolischer Form jene Lebensräume „stellvertreten“, die vom Wohlstand der Privilegierten ausgeschlossen sind. Und wie im Fernsehen würden dann womöglich die Glücklicheren den „Untergang“ jener Anderen, die stellvertretend geopfert werden, von sicherer Warte aus beobachten. Allerdings ist von der Unsicherheit darüber, was nun, und unter welchen Bedingungen zur Gemeinschaft der Schutzgenießenden dazugehört und was nicht, niemand ausgenommen, auch nicht die Fernsehzuschauer. Das Dazugehören ist nicht zuletzt von einem Lebenswandel abhängig, der ständige Disziplinierung und Kontrolle erfordert. Und man kann zwar die damit verbundenen Probleme in ein imaginäres Außen projizieren, um die eigenen Widersprüche nicht sehen zu müssen, aber ein unauflöslicher Rest bleibt dennoch im Inneren zurück und treibt sein Unwesen.
In Entsprechung dazu wird das Haus in Märchen und Horrorfilmen gerne als unheimlicher Ort geschildert, und vielleicht hängt es damit zusammen, dass Obermaiers Haus zwar aus Corten-Stahl gefertigt, aber auf verzerrtem Grundriss errichtet wurde. Das bemerkt man, wenn man sich eine Weile am Ufer des Sees um das Haus herum bewegt hat. Scheint es da einmal breit und massiv, wirkt es schon kurz darauf eher schmal und fragil. Der Eindruck, dass mit diesem Haus etwas nicht stimmt, dringt zwar nur unterschwellig ins Bewusstsein, aber ist nicht genau dasselbe der Fall, wenn in Science Fiction die Helden mit Trugbildern konfrontiert sind, die von unsichtbaren Wesen erzeugt werden, um sie zu verwirren? Diese analog von Obermaier erzeugte Irritation wird ergänzt durch den permanenten Wasserstrom, der das Haus wie einen Brunnen durchspült – ein weiteres surreales Bildelement, das den verdrängten Wunsch nach einer Öffnung jener Grenzen anmahnt, die das häusliche Innenleben wie eine fremde Macht unter Druck setzen.
Spätestens wenn man sich bis zu dieser Sichtweise durchgerungen hat, ist das Prinzip Sicherheit in seiner Bedeutung herabgesetzt. Und in dem Maß, wie die Gedanken auf die Zuschauer selbst und ihre Lebensträume zurückgelenkt werden, erscheint das stählerne Haus als un-heimliche Hülle, die ihre Bewohner bereits zurückgelassen haben.
Michael Hauffen