Bei öffentlichen Auftritten besteht ein Zusammenhang zwischen der Größe des Publikums und der Größe der Auftretenden. Dabei gilt: Je größer die Menschenansammlung desto kleiner erscheint die wahrnehmbare Gestalt der Auftretenden. Es gilt aber auch: Je größer die Menschenansammlung desto bedeutsamer erscheinen die Auftretenden im gesellschaftlichen Machtraum. Die Auftretenden verlieren, relativ zur Größe der Versammlung, an wahrnehmbarer physischer Präsenz, gleichzeitig wächst ihre Bedeutung im symbolischen Raum.
Um die physische Wahrnehmbarkeit der Auftretenden zu steigern, wurden im Laufe der Geschichte unterschiedliche Techniken entwickelt. Im antiken Theater etwa agierten die Schauspieler erhöht auf Kothurnen. Die Akustik der antiken Theaterarchitektur machte ihre Stimmen auch in größerer Entfernung hörbar. Im technologisch hochgerüsteten 20. und 21. Jahrhundert wird die Stimme mit Hilfe von Mikrofon und Lautsprecher verstärkt. Sie entfaltet nun eine zuvor nicht mögliche Lautstärke und räumliche Omnipräsenz – für die ins Mikrofon Sprechenden kommt sie wie eine fremde ans Ohr zurück. Die fortgeschrittene Videotechnik erlaubt auf optischer Ebene, was zuvor nur akustisch möglich war: die simultane Selbstvergrößerung. Qua Beamer oder Großbildschirm wird nun der Auftretende als monumentales, leuchtendes Bild veröffentlicht, während er gleichzeitig als kleiner Originalleib vor seiner Großprojektion agiert. Im antiken Theater wurde die Vergrößerung noch unmittelbar am Leib des Schauspielers vollzogen; in der elektronisch verstärkten Stimme deutet sich bereits die Ablösung der „vergrößerten“ Stimme vom Körper des Sprechenden an; in der simultanen Vidoeübertragung nun spaltet sich der Auftretende auf in sein kleines leibhaftiges, aber originales Ich und sein Ich als öffentliches Großbild. Diese Verdoppelung, die scheinbar ausschließlich aus dem pragmatischen Grund gesteigerter Wahrnehmbarkeit erfolgt, impliziert eine spezifische Form medialer Rhetorik.
Das Prinzip der medialen Verdoppelung wird zuerst extensiv in der Popmusik bei Auftritten von Superstars vor Massenpublikum eingesetzt. Es findet dann zunehmend Verbreitung auf Parteitagen, auf Aktionärsvollversammlungen, Sportveranstaltungen oder Symposien, also immer dann, wenn es über die reine Wahrnehmbarkeit hinaus auch um die Inszenierung von Positionen im gesellschaftlichen Machtraum geht. Neben Videobildern finden dabei auch Diaprojektionen und Großplakate Verwendung. Letztere werden mit Vorliebe von totalitären Regimes eingesetzt, doch auch im demokratischen Wahlkampf inszenieren sich medienerprobte Politiker vor ihren im öffentlichen Raum platzierten Plakatwänden. Für die Kameras der Journalisten führen sie etwa, ausgerüstet mit Leimeimer und Bürste, bei als Miniaturevent getarnten Presseterminen ihre Selbstplakatierung vor. Der sich vor dem eigenen Foto aufbauende Politiker wird dabei wiederum zum Foto.
In ihrer Fotoserie „Selbst-Selbst-Proträt“ greift Gabriele Obermaier den medialen Inszenierungsduktus auf und reflektiert die Fotografie als rhetorische Form der öffentlichen Selbstsituierung. Im Hintergrund ihrer Fotos projiziert die Künstlerin ein, das gesamte Format dominierendes Lichtbild ihres Gesichts – es zeigt ein betont selbstbewusstes, gewinnendes Lächeln. Vor ihrem Fotogesicht stehend, agiert sie mit Gesten, wie sie in Schauspiel- und Rhetorikschulen Rednern beigebracht werden, um das Gesagte und damit sich selbst, überzeugend zu verkaufen.
Gestik vermittelt sich grundsätzlich auf der visuellen Eben, wobei ihre Wahrnehmung beim Betrachter eine Art von körperlicher Anteilnahme auslöst. Die Geste verstärkt und überträgt das Gesagte gewissermaßen von Körper zu Körper. Je vehementer die Geste, desto stärker ist die Übertragungsenergie. Betrachtet man das primär visuelle Medium Fernsehen, lässt sich darin ein für die gegenwärtig zunehmende Begriffslosigkeit und wachsende Bilddominanz symptomatisches Phänomen feststellen. In den Sendungen wo sprechende Quartette einst über Literatur und nun über Kunst diskutieren, fällt die äußerst heftige Gestikulation der Diskutanten auf. Die überzogene Vehemenz der Gesten versucht, Argumentationsschwächen zu kaschieren und den Zuschauer vor dem Bildschirm, mit den visuellen Möglichkeiten des Mediums Fernsehen, auf die eigene Seite zu ziehen. Auffallend ist auch die, wie von einer schlechten Rhetorikschule einstudierte Gestik der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ihre groß angesetzten Gesten enden klein, ihre Arme und Hände erscheinen wie fremd gesteuert. Die Gesten bleiben dem Gesagten äußerlich und sprechen in erster Linie vom emphatischen Willen zur Durchsetzung. Rhetorik geht über in ihre entleerte Form. In diesem Sinne verselbständigen sich auch die Gesten auf Obermaiers Fotos. Das heißt, Obermaier inszeniert die Geste als Form. Das Gesagte bleibt ungehört, sichtbar ist die Geste als Geste, abgelöst vom dem, was sie unterstreicht oder kommentiert.
Gesten sind rhetorische Hohlformen, die der Redner mit dem verbal Ausgesprochenen füllt. Wie Gesten können auch Bilder ihre eigene mediale Rhetorik entfalten. In diesem Sinne rhetorisch funktioniert auch die Ikonologie des Bildes im Bild, des Fotos, das den vor seinem eigenen Großbild auftretenden Akteur zeigt. Obermaiers Fotoserie lenkt die Aufmerksamkeit auf die mediale Rhetorik des Bildes. Ihre Fotos ähneln Presse-, Dokumentations- oder Propagandafotos. Was sie von gewöhnlichen Dokumentationsfotos unterscheidet ist, dass das Publikum, zu dem sie auf ihren Fotos scheinbar spricht, nie existierte und doch evoziert die fotografische Konstellation dessen imaginäre Anwesenheit. Der Auftritt vor Großbild suggeriert, es handle sich um einen öffentlichen Großauftritt. Das Großbild schwebt wie eine göttliche Erscheinung, eine numinose Macht über dem Körper der Akteurin.
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, wie fotografische Bilder in Gesellschaften, in denen Herrschaft im Personenkult gipfelt, öffentlich als demonstrative Anwesenheit der Macht eingesetzt werden. Dieser Einsatz folgt dem Modell der repräsentativen Öffentlichkeit: Der Herrscher leiht dem Amt seinen Körper, er verkörpert das Amt. Das öffentlich verbreitete Foto des Herrschers – Königs, Präsidenten, Diktators – vertritt ihn und repräsentiert die Macht. Überträgt man das Modell der Repräsentation auf die von Obermaier fotografierte Konstellation, drehen sich – Jean Baudrillard lässt grüßen – die Verhältnisse gleichsam um. Das Großfoto ist die dominierende Macht. Der vor dem Großfoto anwesende Körper erscheint wie eine Art Reliquie, die das über allem thronende Foto bestätigt. Die lichthaltige Projektion scheint dem Materiellen einen Schritt entrückt zu sein und bestimmt wie ein Bildgott das Fotogeviert: Die Akteurin steht vor der imaginär öffentlichen Erscheinung ihres eigenen Bildes.
Heinz Schütz